Es freut uns sehr, mit dir ins Gespräch kommen zu können und wir sind ganz gespannt, dich ein bisschen besser kennenzulernen.
Vielleicht könntest du dich kurz bei unserer Community vorstellen. Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du?
Ganz lieben Dank, das ist für mich ein absoluter persönlicher „Fan Girl Moment“ von meinem Lieblingspapier zu einem Gespräch eingeladen zu werden!
Ich bin Verena Hillgärtner, 35 Jahre alt und komme ursprünglich aus dem Münchner Umland. Mittlerweile lebe ich aber seit über 7 Jahre in meiner Wahlheimat Berlin. Den Alpenblick und tiefe Fichtenwälder habe ich bewusst gegen die trubelige Großstadt eingetauscht, und wurde mit mehr Wildnis als je zuvor belohnt. Nach meinem Studium der Kunstpädagogik und Medieninformatik habe ich noch eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin und anschließend noch Wildnispädagogin gemacht.
Aus diesen Zutaten entstand dann vor ein paar Jahren die Idee meine drei Leidenschaften in einer Selbständigkeit zu verbinden: Die Kunst, die Natur und die Menschen.
Seitdem bin ich als „Nature Journaling Teacher“ mit meinem Unternehmen „Wieder Wilder Werden“ unterwegs, gebe Workshops und begleite so (vor allem via Social Media) Menschen auf ihrer kreativen Naturverbindungsreise.
Deine Internetseite und deine Social Media Kanäle heißen „Wieder Wilder Werden“. Klingt spannend und nach Rebellion. Ist dies ein Aufruf an dich selbst, wieder etwas mehr zu wagen, sich aus der Komfortzone rauszubewegen? Warum der Name?
Der Name „Wieder Wilder Werden“ war zu Beginn meiner Reise eine Aufforderung und Reminder an mich selbst. Frisch in Berlin angekommen habe ich mir selbst die Aufgabe gestellt in der Großstadtwildnis mit jedem Tag ein bisschen „wilder“ zu werden. Ich möchte nah mit der Natur Leben bzw. zu einer ursprünglichen und wilderen Lebensweise zurückfinden. Da war die Übersetzung des englischen „Rewilding“ ins Deutsche zu einem „Wilder Werden“ schnell gefunden. Ein wieder zurück nach Hause, zu unseren Wurzeln finden. Eigentlich weniger eine Rebellion als eine Rückbesinnung, die uns in Zeiten der Klimakrise und ökologischer Katastrophen, mehr als guttut.
Wir sind im Internet auf dich und dein Nature Journaling aufmerksam geworden. Kannst du uns und den Lesern vielleicht einmal grob erklären, was das Nature Journaling genau ist und worauf es bei dieser Technik ankommt?
„Nature Journaling“ beschreibe ich gerne als eine Art wunderbaren Tanz zwischen kreativen, poetischen und auch wissenschaftlichen Methoden, durch die ich mich mit der Mitwelt verbinden kann, wieder neugierig werden und die Natur mit völlig neuen Augen sehen lernen kann. Durch bewusstes Wahrnehmen, im Hier und Jetzt sein, Fragen stellen und dem unbeschwerten Erschaffen kleiner Skizzen, wertschätze ich die kleinen, zauberhaften Momente des Alltags, die sonst oft schnell untergehen. Stift und Papier wirken als minimalistisches und wirkungsvolles Werkzeug des (Wieder-) Aufbaus der wunderbaren Beziehung zwischen mir und meiner Umgebung.
Kunst und Natur ist eine tolle Kombi. Wie kam es, dass du dich für das Nature Journaling entschieden hast? Was fasziniert dich daran?
Für mich waren beide Aspekte, die Kunst und die Natur, schon immer Teil meines Lebens. Es ist schon seltsam, dass es so lange gedauert hat, bis ich 1 + 1 zusammengezählt habe und aus den beiden Herzensthemen ein neues Ganzes geschaffen habe. Die Idee des Nature Journalings ist mir 2018 das erste Mal via „John Muir Laws“ begegnet. Er gibt eine unfassbare Anzahl an Infos übers Nature Journaling heraus, viel davon auch gratis auf YouTube. Sein Konzept hat mir endlich die letzten Ängste genommen, die mich seit Beginn meiner künstlerischen Laufbahn verfolgten. Es geht NICHT ums hübsche Bilder malen, sondern um das neu Sehen lernen, das Entdecken, die Freude, das neugierig sein, die Gemeinschaft.
Ich hab‘ mir plötzlich die Erlaubnis gegeben, dass ich nicht alles über die Natur oder die Kunst wissen muss, um mit „Naturskizzen“ anfangen zu dürfen. Ich darf ich selbst sein, darf und SOLL sogar Fragen stellen, auf die es keine Antworten gibt. Es gibt kein Regelwerk, kein falsch machen. Sondern nur das Machen, und das so mit jedem Pinselstrich eine Liebeserklärung an diese wundervolle Welt hinterlassen. Und sie somit in letzter Konsequenz auch bewahren. Das fasziniert mich bis heute und ich möchte es an so viele Menschen wie möglich weitergeben.
Wir sind neugierig. Du bist eine Wildnispädagogin. Was genau ist das?
Die Wildnispädagogik, so wie ich sie kennenlernen durfte, würde ich als persönliche Reise zu einem näheren Leben mit der Natur beschreiben. Neben Fähigkeiten wie einen Unterschlupf im Wald bauen, Feuer mit nur einem Feuerbohrer entfachen, Schnitzen etc., lernt man auch der Vogelsprache zu lauschen. Wie ein gutes Leben draußen und in Gemeinschaft funktionieren kann. Man liest die Spuren und Trittsiegel der Tiere und führt ein „Natur Journal.“
Es geht darum, die Natur nicht als Feindin zu sehen. Wir sind eher wie kleine Kinder, die Stück für Stück wieder lernen dürfen, wie wir uns draußen wieder wohl fühlen können und mit dem, was die Natur uns zur Verfügung stellt, leben und wieder heimisch werden können. Und dieses Draußen-wieder-wohlfühlen gebe ich gerne auch in Form des Nature Journaling an andere Menschen weiter.
Was ist dir beim Dokumentieren eines Nature Journals besonders wichtig? Hast du besondere Rituale oder legst du einfach drauf los?
Ja, es hat schon fast etwas Festliches mein Journal auszupacken! Das Wichtigste dabei ist schon ganz zu Beginn es überhaupt dabei oder in der Nähe zu haben. Das beste Skizzenbuch oder Stift bringen nichts, wenn sie Zuhause am Schreibtisch liegen. Deshalb: IMMER einpacken.
Wenn ich das Journal Aufschlage ist das allererste ein paar „Metadaten“ auf die Seite zu bringen: Datum, Ort, Uhrzeit, Temperatur, Wetter.. da hat jede andere Vorlieben. Mir sind sie wichtig, da ich sonst schnell den Kontext vergesse, in dem die Seite entstanden ist. Und oft entsteht im Nachhinein großes Staunen: „Wow, vor zwei Jahren lag Ende April auch noch Schnee!“ oder „Ach, letztes Jahr blühte die Hasel drei Wochen später!“
Anschließend schaue ich, wohin es meine Neugier zieht. Ich wechsle hier gerne ich eine zuhörende Rolle, werde selbst still und nehme wahr. Summt neben mir eine Hummel, wächst neben mir ein unbekanntes Kraut? Was für Vögel kann ich hören? Wie sieht das Licht aus, das durch die Bäume hinten fällt, wie hängen die Tautropfen an den Grashalmen? Oft ist es schwer mich für eine Sache zu entscheiden. Deshalb gebe ich für unsere Community in den wöchentlichen Lives auf YouTube immer ein Wochenthema vor, z.B. das Buschwindröschen. Dann haben wir einen Fokus. Und natürlich tauchen dann an allen Ecken plötzlich Buschwindröschen auf, die wir vorher mangels eines Konzeptes übersehen und ausgeblendet hatten.
Welche Bedeutung hat das Nature Journaling für dich?
Es ist meine persönliche Reise zurück zur Natur und mir selbst, meine Berufung, mein Leben. Ich würde sagen, dass ich süchtig danach bin. Mein erster Griff war heute morgen wieder zum Stift und Journal, da eine Ringeltaube am Fensterbrett gelandet ist. Ich wollte unbedingt sofort die faszinierende Form ihrer Pupillen festhalten.
Nature Journaling ist wie Magie! Die ganze Welt ist in einen Zauber gehüllt und du kannst ihn Stück für Stück mit deinem Stift entdecken und mit weben. Alles um dich herum wird plötzlich unendlich wertvoll, du kannst durch jeden noch so banal erscheinendem Stein in einen Kaninchenbau an Fragen eintauchen und Wunder entdecken. Es ist meine Art dieser Welt Danke zu sagen, dieser Wertschätzung Ausdruck zu verleihen und ihn weiterzugeben.
Beim Nature Journaling geht es ja auch um das genaue hinsehen, sich Zeit zu nehmen, die Umwelt genau wahrzunehmen. Dies ist ja ein Gegensatz der heutigen immer schneller werdenden Zeit. Hilft es auch dir dich zu entschleunigen, bzw. runterzukommen?
Auf jeden Fall! Ich kann nicht im Vorbeigehen „mal schnell“ einen Schnappschuss von einem Vogel machen. Ich muss mir Zeit nehmen und ihn kennenlernen. Da gibt es kein Vorspulen, keine doppelte Geschwindigkeit und keine Abkürzungen. Ich helfe mir selbst dabei, wieder in der Echtzeit anzukommen. Und manchmal bleibt die Zeit vor Staunen auch ganz stehen. Oder verfliegt im Nu! Während ich ganz still werde und einen Vogel bestaune, ihn versuche zu journaln, kann ich parallel keine großen Gedanken über meine Emails oder sonstigen Aufgaben machen. Das wäre weder dem Vogel noch mir gegenüber höflich. Ich bin komplett präsent.
Journalst du ausschließlich in Berlin und Umgebung oder nimmst du dein Journal auch an andere Orte mit, z. B. auf Reisen und hältst dort die Eindrücke fest.
Das beste Journal ist das, das du immer mit dabei hast! Gerade, wenn ich auf Reisen bin, hilft mir mein „Naturskizzenbuch“ oder „Wildnistagebuch“ (wie es auch genannt werden kann) beim Erinnern. Es ist wie ein alter Fotofilm, auf dem es nur 24 Bilder gab. Ich muss mich entscheiden, welche der vielen wundervollen Begegnungen, Erlebnisse und Fragen ich in meinem Journal festhalten möchte.
Das Abknipsen jeder Situation, wie mit der Smartphone-Kamera, ist hier nicht möglich. Ich muss mich wirklich voller Anerkennung, Ruhe und Neugier zu der interessanten Blume am Wegesrand hinsetzen, mich für mindestens 10 Minuten ins Gras setzen, ihre Perspektive einnehmen. Kurzzeitig ihr Nachbar werden und sie kennenlernen. Der Stift muss bewusst von mir auf dem Papier geführt werden. Dafür muss ich genau hinsehen und mir Zeit nehmen.
Gibt es einen Wunschort, von dem du gerne ein Nature Journal anfertigen würdest? Falls ja, welcher Ort schwebt dir vor?
Ich würde sehr gerne noch mehr extreme Wetterbedingungen beim Journaling erleben und festhalten. Obwohl ich natürlich gerne bei 20°C und Sonnenschein auf der Wiese Käfer beobachte und journale, fände ich es z.B. mal superspannend bei extremer Kälte nahe dem Polarkreis zu journaln. Schnee auf weißem Papier darstellen, die Herausforderung zügig bei zweistelligen Minusgraden trotzdem noch mit Ruhe und Fokus den Moment auf Papier zu bringen und meine eigenen Komfortgrenzen immer wieder neu kennenzulernen. Und ich habe bei Kolleg*innen gesehen, dass sie bei extremer Kälte Gin statt Wasser in ihre Wassertankpinsel füllen, damit sie trotzdem noch mit Aquarellfarben malen können! Das würde ich super gerne mal selbst testen!
Aber sonst bin ich mit jeden Stückchen Wald und Wiese zufrieden und kann unendlich lange mit meinem Journal dort von der Natur verzaubern lassen.
Du leitest Online- & Offline-Workshops, um Menschen diese Technik näher zu bringen. Was findest du daran so spannend?
Zum einen finde ich es eine sehr verbindende, spannende und entspannende Tätigkeit sich auf so vielfältige Weise mit der Natur zu beschäftigen. Mich erfüllt es sehr Menschen erblühen zu sehen. Das Glitzern in ihren Augen zu sehen, wenn sie merken, dass sie sich seit über einer Stunde mit einem kleinen Stück Ast oder einem alten Laubblatt beschäftigt haben. Diese Achtsamkeit und Liebe zur Natur auf diese Art und Weise weiterzugeben, macht mich sehr glücklich.
Dazu ist es mein Weg diese Welt zu retten. Wir stecken tief in einer Klima-Katastrophe. Umso mehr Menschen dieser wunderbaren Welt Beachtung und somit Liebe schenken, umso besser. Zu jedem kleinen Käfer, Schnecke, Vogel oder Wildkraut, dem wir mit Achtung und Liebe begegnen, bauen wir tiefe Verbindungen auf, weben ein Netz aus Beziehungen. Alles ist mit allem verbunden. Wir lernen unsere Mitwelt kennen, und nur das, was wir auch kennen können wir schützen.
Die Arbeit mit Kindern scheint dir auch angesichts deiner beruflichen Ausrichtung sehr wichtig zu sein und viel Spaß zu machen. Sind deine Kurse auch für jüngere Teilnehmer geeignet?
Nature Journaling ist für Menschen jeden Alters. Mit ganz jungen Menschen, die noch keine Buchstaben schreiben können, arbeite ich mehr mit den Sinnen (jup, da landen die Blaubeeren und Löwenzahnblüten schonmal direkt zermatscht auf dem Papier – auch eine Art Kennenlernen und Beziehungsaufbau!) und Ältere schreiben dann auf Wunsch noch die Worte der Jungen dazu. Auch mit Menschen in hohem Alter ist es wundervoll in Naturkontakt zu gehen. Mit ihnen oft nach langer Zeit des nur drinnen seins wieder hinaus in die Natur zu gehen und ihren früheren Erlebnissen und Begegnungen mit der Natur zu lauschen und ihre Geschichten in Journale zu verewigen, die sonst vielleicht nie mehr erzählt worden wären. Da fließt oft die eine oder andere Träne.
Auch generationenübergreifend verbindet die Natur beim Journaling Jung und Alt. Die einen helfen bei Dingen, die die Anderen nicht mehr oder noch nicht können, und umgekehrt. Und allen ist gemein, dass sie mehr und mehr in tiefer Faszination und Liebe zur Natur versinken und mit großer Dankbarkeit diese gemeinsame Zeit wertschätzen.
Du nutzt ja auch Hahnemühle Papiere und Bücher. Welche Hahnemühle-Papiere verwendest du am liebsten und warum?
Ja, ich bin tatsächlich schon seit Uni-Zeiten großer Hahnemühle Fan! Ich hab mich immer wieder durch andere Papier durchprobiert und dann doch wieder bei meinen „Hahnemühle“ Lieblingen gelandet. Gerade fürs Nature Journaling verwende ich zum einen das Travel Journal (in Din A5 und Din A6) sehr gerne, wenn es um schnelle Skizzen und lockeres Ausprobieren geht. Selbst mit einer sanften Schicht Aquarellfarben kommt das Papier meiner Erfahrung nach super klar!
Wenn ich mich aber dann doch etwas mehr in die Farben der Natur vertiefen möchte und ein bisschen „wasserfesteres“ Papier möchte, geht bei mir nichts über das Watercolor Book aus 100% Cotton! Sowohl in Din A5 und auch die ganz handliche Variante in Din A6 sind meine absoluten Favoriten. Die Aquarellfarben legen sich draußen sehr angenehm auf das Papier und sehen getrocknet fabelhaft aus!
Falls nun einer unserer Leser mit dem Nature Journaling anfangen möchte, was würdest du ihnen raten bzw. worauf sollte man am Anfang achten.
Es kommt vor allem zu Beginn nicht auf einen bis oben gefüllten Rucksack an Pinseln, Farben und Stiften an, sondern auf das TUN. Du musst in Aktion kommen, am besten jeden Tag Üben. Denn Beobachten und auch Zeichnen lernst du nur durch regelmäßiges Üben. Ich vergleiche es gern mit Joggen gehen oder ein Instrument lernen, denn da ist es für uns oft offensichtlicher: Wir würden nicht von uns selbst verlangen ohne Üben morgen einen Marathon zu laufen oder in einem Orchester mitzuspielen. Dafür ist eine Menge Hingabe und Zeit nötig. Genauso ists mit dem Zeichnen: Üb es jeden Tag, laufe deine „Stiftekilometer“, auch wenn es nur ein paar Striche sind. Aber bleib dran.
Bei allem ins Tun kommen: Wenn du nur in eine Sache zu Beginn investierst: Gönn dir gutes Papier, das macht so einen großen Unterschied. Du musst keine Einkaufswägen voller Material aus dem Kunstbedarf, um deine Nature Journaling Reise zu starten. Es reicht EIN gutes Skizzenbuch (z.B. das Watercolor Book 100% Cotton), ein Bleistift, Fineliner und Aquarellfarben (3 Primärfarben reichen völlig). Weniger ist mehr, hol dir lieber gleich zu Anfang qualitativ hochwertiges Material aus dem Kunstbedarf.
Und dann: Einfach raus und machen.
Wir danken dir für deine Zeit und das Interview und wünschen dir für deinen weiteren Weg von Herzen alles Gute!
Schauen Sie gerne auf dem Instagram-Kanal und der Website von Verena vorbei und lassen Sie sich inspirieren!